DIE VISUELLE OHRDIAGNOSTIK

Einleitung

Die diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten der chinesischen Medizin, in der Hand eines erfahrenen Therapeuten, gehen weit über das hinaus, was üblicherweise innerhalb der Bevölkerung bekannt ist. Fast alle Erkrankungen, die die westliche Schulmedizin mit ihren diagnostischen Möglichkeiten erfasst, können auch mit den Methoden der TCM diagnostiziert und erfasst werden. Die Antlitzdiagnostik, Zungendiagnostik und Pulsdiagnostik haben auch in der westlichen Medizin eine lange, leider meist vergessene, Tradition. Antlitzzeichen wurden von erfahrenen Therapeuten von jeher in der Diagnostik akuter und chronischer Erkrankungen eingesetzt. Neben den Arbeiten von Kretschmar seien hier vor allem die Bücher von H.-D. Bach genannt, die für den Bereich der Antlitz- und Zungendiagnostik das alte Wissen des westlichen Kulturkreises, in neuer übersichtlicher Form, zusammengestellt haben. Die hier vorgestellte Art der visuellen Ohrdiagnostik hat, ebenso wie die Zungendiagnostik, asiatische als auch europäische Wurzeln. Im Folgenden werden die wichtigsten visuellen Oberflächenzeichen beschrieben, die, in diagnostischer wie therapeutischer Hinsicht, verwendet werden können.

Geschichte der visuellen Ohrdiagnostik

Neben der Akupunktur, als Teil der Traditionellen Chinesischen Medizin ist eine Vielzahl von zusätzlichen Akupunktursystemen oder Mikroakupunktursystemen in den letzten Jahren entdeckt / bekannt geworden. Das bekannteste ist die Ohrakupunktur (siehe Tabelle Akupunktursysteme). Hier setzt die visuelle Ohrdiagnostik an.

Liste bekannter Akupunktursysteme

  • Ohrakupunktur: (französisch, chinesisch, russisch)
  • Schädelakupunktur: (chinesisch, Yamamoto)
  • Handakupunktur: (chinesisch, Su Yok)
  • ECIWO-Akupunktur: (Metacarpale II, Metacarpale V)
  • Akupunktur 2000 nach Boel
  • Neue Akupunktur nach Siener
  • Mikroakupunktursystem Clavicula nach Rita Klowersa

Ab dem Jahr 1957 wurde die Ohrakupunktur / Aurikulotherapie von Dr. Paul Nogier in der medizinischen Welt bekannt gemacht. Mittels sogenannter Punktsuchgeräte, bzw. mittels Punkttastung, wurden Punkte, die zur Behandlung der vorliegenden Beschwerden eingesetzt werden können, ausgewählt. Die visuelle Lokalisation von Punkten spielte dabei nur eine untergeordnete Rolle.

Nur in wenigen Publikationen wurde auf die Möglichkeit, Störungen bestimmter Körperabschnitte in den entsprechenden zugeordneten Regionen der Ohrmuschel durch visuelle Zeichen zu erkennen, hingewiesen.

Bei dem hier vorgestellten Verfahren handelt es sich um eine Erweiterung alter Beobachtungen, die charakteristische Veränderungen in bestimmten Arealen der Ohrmuschel bei bestimmten Krankheiten beschreiben.

Vorgehensweise bei der visuellen Ohrdiagnostik

Bei der Inspektion der Ohrmuschel wird u.a. auf die Größe und Form der Ohrmuschel, auf sichtbare venöse und arterielle Blutgefäße, auf Rötungen, Deformierungen, Schwellungen, etc. (siehe Tabelle 1 weiter unten) geachtet. Unter Berücksichtigung der entsprechenden Lokalisation können Rückschlüsse auf Störungen innerer Organe und verschiedener Körperbereiche gezogen werden. Bei älteren Patienten müssen einige Punkte bei der Anwendung dieser Form der Diagnostik berücksichtigt werden. Insbesondere, wenn aufgrund von Grunderkrankungen blutverdünnende Mittel eingenommen wurden, zeigen sich deutlich mehr Gefäße als normalerweise und diese sind zum teil sehr dünnkalibrig. Dadurch ist es schwieriger das relevante Gefäß zu finden. Bei bestehenden Lungenerkrankungen, die zu einer schlechten Oxigenierung des Blutes führen, ist die Beurteilung der Farbe des Gefäßes (bläulicher für chronischen Prozess, rötlicher für akuten Prozess) eingeschränkt. Ferner kann eher als bei jungen Patienten, aufgrund der reduzierten Kreislaufleistung, die Durchblutung der Ohrgefäße verringert sein und daher schlechter beurteilbar. Diesem Umstand kann dadurch Rechnung getragen werden, dass das Ohr an der Stelle an der die Gefäße vermutet werden kurz (3-5 leichte Massagebewegungen mit Daumen und Zeigefinger) massiert wird. Altersflecken der Haut des Ohres können ebenfalls Schwierigkeiten bei der Zuordnung von im Ohr sichtbaren Störungen des Körpers bereiten. Insgesamt ist aber die Einschränkung der visuellen Ohrdiagnostik bei alten Menschen nicht so relevant, dass auf sie verzichtet werden müsste. Die von uns verwendete Ohrkarte (siehe unten) wird dabei zugrunde gelegt. Sie weicht in einigen Punkten von der überarbeiteten Ohrkarte nach Noack ab, ist aber aufgrund ihrer plastischen Darstellungsweise von allen mir bekannten handelsüblichen Karten am geeignetsten.

GefäßveränderungenArterielle Gefäße
Venöse Gefäße
FarbveränderungenRötungen
Abblassungen
HautstrukturHautdicke
Schwellungen
Knoten, Papeln
Deformitäten, z.B. Einkerbungen
Schuppen
Erosionen

Tab. 1 Hinweiszeichen in der visuellen Ohrdiagnostik

Abb. 1: Projektion eines Embryos auf die Ohroberfläche aus dem Buch „Ohrakupunktur“ von Michael Noack

Abb. 2: Ohrkarte des Zentrums für Traditionelle Chinesische und Integrative Medizin

Die oben links gezeigte Abbildung zeigt sehr anschaulich die Darstellung eines auf die Ohroberfläche projizierten Embryos / Säuglings. Die oben rechts sichtbare Abbildung stellt die von uns verwendete Karte dar.

Abb. 3: Links sichtbare Gefäße in den Bereichen Schulter, Halswirbelsäule (HWS), Brustwirbelsäule (BWS), Ellenbogen und das sog. Immunologische Gefäß

Abb. 4: Rechts sichtbare Gefäße in den Bereichen Knie, Lendenwirbelsäule (LWS) / Becken, Ischias, innere Organe

Die unterschiedlichen Erkrankungen zeigen sich mittels Punktsuchgerät häufig als geometrisches lokalisierbares Muster im Ohr (siehe Noack). In der überwiegenden Anzahl der Fälle sind aktive (elektrisch messbare) Punkte auch schmerzhaft oder sichtbar, z.B. in Form eines kleinen roten Punktes.

Insbesondere bei Störungen im Bereich Wirbelsäule und Gelenken ist die Visuelle Ohrdiagnostik sehr effizient einsetzbar, da die sichtbare Auffälligkeit gleichzeitig den Ort der Behandlung anzeigt. Wird diese Störung mit den Methoden der TCM oder der Ohrakupunktur erfolgreich behandelt, ändern sich auch die Zeichen an der Ohroberfläche.

Anhand von Gefäßen auf der Ohrmuschel können akute (eher hellrot) von chronischen (eher bläulich) Erkrankungen unterschieden und gezielt behandelt werden. Für folgende Erkrankungen konnten wir häufig eindeutige Beziehungen, in über 70-80% der Fälle, zwischen Zeichen an der Ohroberfläche und dem Beschwerdebild finden:

  • Beschwerden im Bereich der HWS, BWS, LWS und ISG
  • Kniebeschwerden
  • Ischiasbeschwerden
  • Allergien

Im Folgenden werden die Oberflächenzeichen anhand von Fotos dargestellt.

Bei einer Störung im Bereich der Wirbelsäule mit Bewegungseinschränkung oder mit starken Schmerzen (schulmedizinisch meist Bandscheibenvorfall oder Störung/Verkantung im Bereich der Facettengelenke) kann z.B. ein gestautes Gefäß über dem in der Ohrmuschel repräsentierten Bereich der Lendenwirbelsäule (LWS) zu sehen sein, in dem die Störung vorliegt. Die Platzierung einer Nadel oder eines Ohrkörnchens unmittelbar neben dem Gefäß in dem betroffenen Ohrareal (cave: Reinstechen vermeiden, weil sonst das körpereigene Hinweiszeichen in Mitleidenschaft gezogen wird) ist eine mögliche Therapie. Das Anstechen des Gefäßes im Sinne eines Mikroaderlasses sollte die Methode der letzten Wahl sein und therapieresistenten Fällen vorbehalten werden, da bei diesem Vorgehen Energie verloren geht! Ebenso zeigen sich Störungen im Bereich der Brustwirbelsäule (BWS) oder der Halswirbelsäule (HWS) in Form von hellroten bis dunkelblauen Gefäßen, je nachdem in welchem Bereich der Wirbelsäule die Beschwerden vorliegen und ob sie akut oder chronisch sind.

Bei Kopfschmerzen oder Verspannungen der Nacken – und Schulterpartie können sich kleine Gefäßzeichnungen in dem Halswirbelsäulen-Areal des Ohrs zeigen. Je nachdem, ob sie eher im Bereich der Bandscheibenregion (an der Anthelix innen Richtung Concha superior oder inferior) oder der muskulären Region der HWS-Repräsentation (lateral) im Ohr zu finden sind, wird die Therapie dort ansetzen.

Auch Störungen im Bereich der Wirbelsäule, die noch nicht zu starken Symptomen geführt haben oder die der Patient unter Normalbedingungen nicht als Störung registriert, zeigen oftmals ein Korrelat im Ohr. Letztere können meist erst im Rahmen einer klinischen Untersuchung der Wirbelsäule und des Gelenkapparates als Bewegungseinschränkung, in dem sich im Ohr darstellenden Segment, klinisch nachgewiesen werden.

Abb. 5: Auf diesem Bild findet sich ein Gefäß im Bereich der LWS / ISG im Bereich des Leberareals als Hinweis auf einen Leber Qi Stau und im Bereich der unteren BWS ein kleines Gefäß.

Abb. 6: Farbveränderung bei Ischiasbeschwerden

Ischiasbeschwerden zeigen sich oftmals als Gefäßauffälligkeit in der Ischiasregion (franz. Ohrakupunktur), ebenso Kniebeschwerden entweder im Bereich des muskulären oder nervalen Beines. In der typischen Ischiasregion finden sich bei länger bestehenden Beschwerden Farbveränderungen (siehe Abb. unten) , wie sie auch bei venösen Durchblutungsstörungen an den Beinen Betroffener gehäuft gefunden werden.

Abb. 7: Zeigt Gefäß ins Knieareal ziehend bei Patientin mit Kniebeschwerden

Ischiasbeschwerden zeigen sich oftmals als Gefäßauffälligkeit in der Ischiasregion (franz. Ohrakupunktur), ebenso Kniebeschwerden entweder im Bereich des muskulären oder nervalen Beines. In der typischen Ischiasregion finden sich bei länger bestehenden Beschwerden Farbveränderungen (siehe Abb. unten) , wie sie auch bei venösen Durchblutungsstörungen an den Beinen Betroffener gehäuft gefunden werden.

Immunologisches Gefäß
Abb. 8: Immunologisches Gefäß

Leber Qi StauAbb. 9: Leber Qi Stau ist nicht nur an der Vorderseite des Ohres zu sehen, sondern auch an der Rückseite (kräftiges blaues Gefäß rechts)

FallbeispielAbb. 10: Zum folgenden Fallbeispiel

Auf der Fotografie ist das Ohr eines 51-jährigen Patienten dargestellt, der das „Zentrum für Traditionelle Chinesische und Integrative Medizin“ aufsuchte. Er klagte über massive Beschwerden im Bereich des unteren Rückens mit Ausstrahlung in das rechte Bein dorsal bis Mitte der Wade. Am Vortag war mittels CT ein Bandscheibenvorfall L4/L5 nachgewiesen worden. Die Symptomatik trat bei dem Versuch des Patienten aus seinem Wagen auszusteigen plötzlich auf. Selbst potente Schmerzmittel hatten dem Patienten keine Linderung verschaffen können und er war nicht mehr in der Lage selbstständig Auto zu fahren.

Bei der visuellen Ohrdiagnostik zeigte sich im Bereich des unteren Rückens und der Projektionszone des Iliosakralgelenkes (ISG) ein entsprechendes Gefäß.

Ein sofort durchgeführter Mikroaderlass der gestauten Vene im Ohr im ISG-Bereich (auf der Abb. 11 nicht mehr zu sehen) führte zu einer initialen Schmerzerleichterung von über 50%. Die ebenfalls in der ersten Sitzung durchgeführte Ohrakupunktur (siehe Abb. 12) führt zu 90%iger Beschwerdefreiheit. Der Patient erhielt weitere 8 Behandlungen mit dem auf der Abbildung dargestelltem Therapieschema. Zusätzlich wurde unterstützend eine Körperakupunktur durchgeführt. Der Patient konnte am 05.06.2002 trotz einer täglichen Arbeitszeit von 16h, beschwerdefrei entlassen werden.

Knie,IliosakralgelenkAbb. 11: Gefäßzeichnung im Bereich Knie,
Iliosakralgelenk

Knie,Iliosakralgelenk

Abb. 12: Ohrakupunktur im Bereich der
auffälligen Areale